Neues aus der Neurologie und Psychiatrie
Prof. Weih berichtet von der 93. Jahrestagung der Bayerischen Nervenärzte
In einer dreiteiligen Serie berichtet Herr Prof. Weih von der 93. Jahrestagung der Bayerischen Nervenärzte. Diese fand am 15. und 16. Oktober 2021 im Kloster Irsee statt.
Im ersten Teil geht es dabei u. a. um die Themen Gangstörungen, Synkopen sowie internetbasierte Therapieansätze in der Psychotherapie.
Schwindelerkrankungen, Gangstörungen, Synkopen
Im ersten Themenblock aus der Neurologie gab Frau Prof. Dieterich aus München ein Update über Schwindelerkrankungen unter besonderer Berücksichtigung des M. Menière, der vestibulären Migräne oder der Neuritis vestibularis.
Der Differenzialdiagnose von Gangstörungen widmete sich der Vortrag von Herr Prof. Jahn aus Bad Aibling. In eindrucksvollen Videobeispielen (Polyneuropathie, Vestibulopathie, Ataxie, kognitive Störung, M. Parkinson) zeigte er die Ganzkörperleistung Gang, in der verschiedene funktionelle Systeme und Domänen (z. B. Sensorik, Motorik, vestibuläres System, Kognition, Emotionen) interagieren. Er führte vom Typ der Gangstörung zur Klassifikation der Gangstörungen und warnte dabei vor globalen Beschreibungen wie „senile Gangstörung“. Ein besonderer Stellenwert kommt der deutlich variablen Ganggeschwindigkeit, dem Gang bei Augenschluss und Dual Tasks zu. Vor allem bei posturalen und oder extrapyramidalen Störungen steigt die Sturzgefahr deutlich. Therapeutisch beeinflussbar ist der Normaldruckhydrozephalus. Multimodale objektive Ganganalysen können mit GAITRite oder GAITALYZE erfolgen, was aber eher für Kliniken relevant sein dürfte.
Die Differenzialdiagnose der neurogenen Synkopen erläuterte Frau Dr. Köhn aus Erlangen. Nach einer gelungenen Einführung über Synkopen in der Musik führte sie ebenfalls mit Videobeispielen wichtige unspezifische und spezifische Synkopenformen aus, wie Reflexsynkopen, vasovagale Synkopen, hypersensitiver Karotissinus, posturale Tachykardiesyndrome und orthostatische Hypotonie. In den DGN-Leitlinien wird ein zweistufiges Vorgehen empfohlen. In der Basisdiagnostik folgt nach Anamnese und Befund ein 12-Kanal-EKG und ein aktiver Stehtest über 3 Minuten. Goldstandard ist die autonome Kipptischuntersuchung. Weitere Testverfahren sind z. B. die Herzratenvariabilität in Ruhe und Provokation. Frau Dr. Köhn endete ihren Vortrag mit den verschiedenen nichtmedikamentösen (Wasserbolus, Salz, Ausdauertraining, Kompressionsstrümpfe, Beine überkreuzen, Muskelanspannung) und medikamentösen Therapieverfahren (Midodrin aus der Wirkstoffgruppe der Sympathomimetika, Betablocker, Fludrocortison, Pyridostigmin).
ICD-11, internetbasierte Therapieansätze in der Psychotherapie, Internetplattfornen und soziale Medien
Prof. Jäger aus den schwäbischen psychiatrischen Bezirkskliniken beschrieb danach die anstehenden Veränderungen durch die ICD-11. Es wird zu einer weiteren Inflation der Diagnosen kommen, zur gleichen Zeit werden viele Diagnosen, z. B. aus der klassischen deutschen Psychopathologie oder den Psychosen, sowie die strikte Operationalisierung des ICD-10 entfallen. Bei den Persönlichkeitsstörungen werden die Schweregrade und die hervorstechendsten Merkmale codiert werden müssen. Prof. Jäger schilderte die Chancen und auch Risiken der neuen Klassifikation.
Danach stellte Frau PD Bauer aus Heidelberg das heterogene und sich schnell entwickelnde Feld der internetbasierten Therapieansätze in der Psychotherapie vor. Die meisten Interventionen basieren auf der kognitiven Verhaltenstherapie oder ähneln Selbsthilfemanualen. Unterschieden werden kann zwischen Stand-alone-Lösungen (häufigste Form), Blended Treatment (Kombinationsbehandlung) oder Stepped Care (sequenziell). Es gibt vollautomatisierte Programme ohne Kontakt zum Therapeuten, aber auch begleitete oder therapeutisch geleitete Interventionen. Differenziert schilderte sie die Chancen und Risiken der Verfahren, wie die hohen Drop-out-Raten, das Krisen- und Notfallmanagement und fehlende Qualitätsstandards (siehe auch Klein, 2018). Generell haben sich die Rahmenbedingungen mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG 2020) und den DIGAs geändert. Aktuell gibt es schon 23 DIGAs, allein 11 bei psychischen Erkrankungen, 4 davon dauerhaft. Inzwischen liegt nicht nur eine Beurteilung der Stiftung Warentest vor, es gibt auch mehr als 200 Studien und Metaanalysen. Die Effektstärke ist mit 0,8 relativ hoch, damit sind die Programme wirksam, aber oft nur gegen eine Warteliste getestet. So zeigte sich im direkten Vergleich gegen Bibliotherapie (eine Standard-Selbsthilfetherapie) kein signifikanter Effekt bei deutlich geringeren Kosten. Beispielhaft zeigt sie Programme wie moodgym (kostenlos) und deprexis (kostenfreie Testversion), mit dem schon viele Studien durchgeführt wurden. In der großen EVIDENT-Studie zeigte sich eine leichte, nicht langanhaltende Besserung in der Interventionsgruppe mit deprexis. Eine konkrete Empfehlung für ein bestimmtes Programm gab die Referentin nicht. Von Blendend Treatment verspricht man sich Effizienzsteigerung zu den Face-to-Face-Sitzungen; die Studienergebnisse zeigen keinen Unterschied, es war aber weniger Therapeutenzeit für den gleichen Effekt nötig. Die Add-on-Studien haben auch mit niedrigen Log-in- und hohen Drop-out-Raten zu kämpfen und zeigen wenig oder keinen Effekt.
Zum Abschluss des psychiatrischen Themenblocks fragte Frau Dr. Pechler aus München, in einem sehr differenzierten und erhellenden Vortrag, ob Internetplattformen bzw. soziale Medien (vor allem Instagram und Facebook) krank machen oder einen aktiv negativen oder schädigenden Einfluss auf die psychische Gesundheit haben.
Prof. Dr. Markus Weih ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist im Medic-Center Nürnberg – Schöll + Kollegen (MVZ) tätig und für Berufsverband und in Forschung und Lehre aktiv.