Wie verbindlich ist die neue Kodierunterstützung?
Abrechnungstipps von Dr. med. Gerd W. Zimmermann
Bereits seit dem 1. Januar 2022 sollten die Praxisverwaltungssysteme (PVS) einen digitalen Helfer erhalten, der direkt beim Kodieren bei der Abrechnung oder bei der Angabe der Diagnose auf dem Krankenschein unterstützt. Wie sich jetzt herausstellt, geht das aber nicht so schnell wie erhofft. Die Maßnahme ist aber gesetzlich vorgeschrieben und wird deshalb kommen – und darauf sollte man vorbereitet sein.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat den gesetzlichen Auftrag bereits umgesetzt, zum 1. Januar 2022 verbindliche Vorgaben für die Vergabe und Übermittlung von Diagnoseschlüsseln festzulegen. Es wurden die erforderlichen inhaltlichen und technischen Voraussetzungen für eine umfassende Kodierunterstützung für Praxen in den Praxisverwaltungssystemen definiert, wobei die Umsetzung in der Software Gegenstand der KBV-Zertifizierungen von Software-, Softwareteilen und Komponenten ist.
Nachdem die KBV alle KVDT-zertifizierten Hersteller zur Zertifizierung aufgefordert hat, zeichnet sich allerdings ab, dass nicht alle Hersteller diesen Termin einhalten können. Die KBV-Vertreterversammlung hat deshalb bereits am 3. Dezember 2021 die Aufnahme einer Übergangsregelung in die Kodiervorgaben nach § 295 Abs. 4 SGB V beschlossen. Damit soll sichergestellt werden, dass Praxen, deren Softwaresystemhersteller die Kodierunterstützung nicht zeitgerecht umsetzen konnte, bis längstens zum 30. Juni 2022 rechtssicher von der Anwendung befreit sind.
Übergangslösung ist fakultativ!
Praxen, deren PVS-Anbieter die Anwendung der Kodierunterstützung zeitgerecht umgesetzt haben, müssen sie allerdings zum 1. Januar 2022 anwenden. Mit dieser Regelung soll auf die Situation der Praxen und der Hersteller gleichermaßen Rücksicht genommen werden. Zum einen ist damit sichergestellt, dass diejenigen Hersteller, welche die Umsetzung fristgerecht verwirklicht haben, die Funktionalitäten zum 1. Januar 2022 ausrollen und die Praxen – sobald ihr Softwareprodukt die neuen Vorgaben zur Kodierunterstützung anbietet – die Funktionalitäten verpflichtend anwenden. Zum anderen erhalten Hersteller, welche die fristgerechte Umsetzung und Zertifizierung der neuen Vorgaben bisher noch nicht abschließen konnten, eine Verlängerung der Umsetzungsfrist bis zum 30. Juni 2022. Praxen mit einem dieser Praxisverwaltungssysteme dürfen statt der neuen Kodierunterstützung die bisherigen Vorgaben und Regelungen weiterverwenden, bis ein Update bereitsteht.
Zum Hintergrund:
Die neue zentrale Funktion ist ein sog. Kodier-Check zur „Plausibilisierung“ von gewählten Kodes, der im Hintergrund läuft. Neben der ICD-10-GM ist künftig auch die Verschlüsselungsanleitung, herausgegeben vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), in die Praxissoftware eingebunden. Bewährte Funktionen wie die Kodesuche und die Kennzeichnung von Dauerdiagnosen wurden überarbeitet und stehen weiter für alle Diagnosebereiche bereit.
Der neue Kodier-Check wird (zunächst) in vier Diagnosebereichen mit hohen Fallzahlen und einer komplexen Kodierung starten: Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus und Folgen eines Bluthochdrucks. Wenn ein Kode aus diesen Diagnosebereichen eingegeben wird, beginnt ein Kodierregelwerk im Hintergrund mit der Prüfung. Passt etwas nicht, meldet es sich und gibt beispielsweise den Hinweis, dass ein spezifischerer ICD-10-GM-Kode vorhanden ist, und bietet diesen direkt zur Auswahl an. Der Anwender kann diesen Kode übernehmen oder ablehnen. Soll der Hinweis bei diesem Fall im selben Quartal nicht noch einmal angezeigt werden, kann er deaktiviert werden. Die ärztliche Entscheidung soll dabei oberste Priorität haben. Die Software ist so voreingestellt, dass der Kodier-Check direkt bei der Kodierung läuft. Wird das nicht gewünscht, kann die Einstellung so angepasst werden, dass die Überprüfung erst bei der (Test-)Abrechnung erfolgt. Praxisinhaber bekommen dann eine Übersicht mit allen Behandlungsfällen und den entsprechenden Hinweisen angezeigt, und die Fälle können am Quartalsende einzeln bearbeitet werden.
Die Funktion, Behandlungsdiagnosen eines Quartals so zu kennzeichnen, dass sie auch in den Folgequartalen automatisch in die Abrechnungsunterlagen übernommen werden können, bleibt erhalten. Neu ist, dass diese Funktion künftig auch für anamnestische Diagnosen bereitsteht und in jeder Praxissoftware aktiviert ist. Bevor Praxen „Dauerdiagnosen“ oder „anamnestische Diagnosen“ in die Abrechnung übernehmen, sollte allerdings eine Prüfung erfolgen, ob diese in dem Quartal für die Behandlung relevant waren: Weil der Diabetes mellitus eines Patienten beispielsweise regelhaft Anlass zur Behandlung ist, wäre er eine klassische Dauerdiagnose. Eine Penizillin-Allergie hingegen hat ein Patient zwar dauerhaft, sie führt aber in der Regel nur sporadisch zu einem Behandlungsaufwand. Für die ärztliche Entscheidung ist sie deshalb allenfalls bei der Verordnung eines Antibiotikums wichtig und sollte daher als anamnestische Diagnose gekennzeichnet werden.
Eine zusätzliche Funktion bietet die Kodierunterstützung speziell für den „akuten Herzinfarkt“ und den „akuten Schlaganfall“. Sollen die entsprechenden Kodes mit dem Zusatzkennzeichen „G“ für gesichert als Dauerdiagnose neu abgespeichert werden, erhält der Anwender einen Hinweis. Denn akute Diagnosen sind in aller Regel als Dauerdiagnosen ungeeignet, und für den Herzinfarkt und Schlaganfall sieht die ICD-10-GM spezifische Kodes für die dauerhafte Schädigung und Behandlung vor.
Fazit
Diese „Kodierunterstützung“ führt spätestens, wenn sie „scharfgeschaltet“ wird, bei der Quartalsabrechnung zu mehr bürokratischem Aufwand, denn man kann sie nicht grundsätzlich vermeiden. Was man nämlich nur zwischen den Zeilen lesen kann, ist die heimliche Auswirkung auf die Kodierungstiefe. Die war bisher freiwillig, wurde von einigen Kassen aber sogar finanziell belohnt und ist im Rahmen der HzV-Abrechnung sogar von grundlegender Bedeutung. Eigenmächtige Entscheidungen über die Art der Kodierung und deren Auswirkung auf das Abrechnungsergebnis sind künftig kaum noch möglich! Man kann die Kodierempfehlungen zwar ignorieren, muss sich z. B. im Falle von Prüfmaßnahmen aber fragen lassen, warum man das gemacht hat.
Wer mit seinem PVS-Anbieter zu schnell bei der Umsetzung war, darf das nun schon seit dem 1. Quartal 2022 auskosten! Wer zu langsam war, hat durch die jetzige Entscheidung der KBV voraussichtlich bis zum 3. Quartal 2022 eine Galgenfrist.
Dr. med. Gerd W. Zimmermann ist Facharzt für Allgemeinmedizin mit eigener Praxis in Hofheim/Taunus und seit vielen Jahren als Referent sowie Autor zum Thema Leistungsabrechnung nach EBM und GOÄ tätig.