Sozialgericht in Hessen widerspricht Willkür der hessischen Prüfgremien
Abrechnungstipps von Dr. med. Gerd W. Zimmermann
Psychosomatikregresse müssen substanziell begründet werden!
§ 106 SGB V sieht vor, dass die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch Beratungen und Prüfungen überwachen. In der Umsetzung wurde dieser Gesetzesauftrag mehr und mehr zu einem „scharfen Schwert“, mit dem die paritätisch je aus drei Kassen- und KV-Vertretern besetzten Prüfgremien bisher Vertragsärzte „geknechtet“ haben. Nachdem das Bundessozialgericht (BSG) seinerzeit entschieden hatte, dass bei einer Überschreitung des Wertes der Vergleichsgruppe um mehr als 100 % sogar eine pauschale Kürzung der Honoraranforderung möglich ist, wurde dies von den Prüfgremien seither sogar als eine Art „Persilschein“ angesehen, solche Honorarkürzungen ohne größeren intellektuellen Aufwand auszusprechen. Damit könnte nun Schluss sein!
Zumindest in Hessen und dort beim Ansatz der EBM-Psychosomatikziffern 35100 und 35110 sieht das zuständige Sozialgericht (SG) Marburg die Spruchpraxis der hessischen Prüfgremien als nicht zulässig an.
Den Startpunkt markierte eine hessische Fachärztin für Allgemeinmedizin: Bei ihr wurden von den – bei der KV Hessen ansässigen – Prüfgremien in den Jahren 2012 bis 2014 wegen des erhöhten Ansatzes der GOP 35110 pauschal, und nur auf die Überschreitung des sog. Fachgruppendurchschnitts der Hausärzte bezogen, Honorarkürzungen in Höhe von 31.430,10 Euro und 21.432,40 Euro festgelegt. Das Sozialgericht Marburg hob die Bescheide auf und verpflichtete den Beschwerdeausschuss (BA), die beanstandeten 12 Quartale neu zu bescheiden. Nach Auffassung der Richter war die Prüfmethode nach statistischen Durchschnittswerten hier unzureichend. Bei der Frage der Wirtschaftlichkeit müssten von Amts wegen relevante medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten oder Praxisbesonderheiten, berücksichtigt werden.
Mit diesen Argumenten hat das SG Marburg die Regressbeschlüsse des hessischen Beschwerdeausschusses in Frankfurt zurückgewiesen:
- Aufgrund der sog. Einzelfallprüfung hat die Beklagte im konkreten Behandlungsfall die Behandlungsdokumentation auf die Wirtschaftlichkeit des Ansatzes der GOP des EBM hin zu überprüfen. Im Rahmen der Einzelfallprüfung ist eine konkrete Betrachtung des jeweiligen Abrechnungsfalles geboten, so dass die Patientendokumentation des Arztes zu prüfen ist. Die Psychotherapie-Richtlinie selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen.
- Die Abrechnung der GOP 35100 und 35110 EBM setzt nicht die Kodierung einer F-Diagnose voraus.
- Die Ausführungen im Bescheid müssen erkennen lassen, wie das Behandlungsverhalten des Arztes bewertet wurde und auf welchen Erwägungen die betroffene Kürzungsmaßnahme beruht, was im streitigen Bescheid kaum nachzuvollziehen sei. D. h. es ist im Grunde nicht zu erkennen, worin aus Sicht des Beklagten – außer in der Häufung der GOP 35100 EBM im Vergleich zur „Fachgruppe“ – der Unwirtschaftlichkeitsvorwurf besteht.
Konkret wurde mit diesem Urteil der Beschwerdeausschuss in Hessen aufgefordert, seine „Hausaufgaben“ zu machen und die unterstellte Unwirtschaftlichkeit durch eine Einzelfallprüfung zu belegen. Dieser Aufforderung ist der hessische BA allerdings nicht gefolgt, sondern lässt dessen Rechtsgültigkeit durch Klage beim Landessozialgericht überprüfen. Entweder war es dem Gremium einfach lästig, sich künftig intellektuell mit der Frage der Wirtschaftlichkeit der Behandlung durch Vertragsärzte zu beschäftigen, oder man fürchtet den Präzedenzfall. Der würde nämlich eintreten, wenn dieses Urteil des SG Marburg Bestand hätte, d. h. auch in anderen Kassenärztlichen Vereinigungen und vielleicht sogar bei anderen Gesprächsleistungen die Sozialrichter ähnlich entscheiden könnten. Mittlerweile sind bereits 6 (!) inhaltsgleiche Klagen von hessischen Vertragsärzten beim SG eingereicht worden. Das Sozialgericht wiederum hat diese Verfahren als ruhend gestellt, bis seitens des Landessozialgerichts abschließend über die anhängigen Rechtsfragen entschieden wurde. Das kann leider etwas dauern, zumal der hessische BA bereits durchblicken ließ, dass man ggf. sogar in der Sache das Bundessozialgericht anrufen wolle!
Fazit:
Von dieser „Hinhaltepraxis“ können Vertragsärzte, die in ähnlicher Form einen Psychosomatikregress erhalten haben oder noch erhalten, jedoch profitieren. Betroffene Praxen können sich im Widerspruchsverfahren und bei einer ggf. notwendigen Klage gegen den Beschluss des Beschwerdeausschusses ihrer KV auf die folgenden Verfahren beziehen:
SG Marburg S 17 KA 527/20, S 17 KA 223/17, S 17 KA 409/17, S 17 KA 476/17, S 17 KA 234/21, S 17 KA 12/18, S 17 KA 13/18, S 17 KA 527/20.
Dr. med. Gerd W. Zimmermann ist Facharzt für Allgemeinmedizin und seit vielen Jahren als Referent sowie Autor zum Thema Leistungsabrechnung nach EBM und GOÄ tätig.