Notfälle und Notdienst gehen jetzt auch per Videosprechstunde! Aber: Ist so etwas überhaupt möglich?
Abrechnungstipps von Dr. med. Gerd W. Zimmermann
Die Möglichkeit, Videosprechstunden abzuhalten, hat eine neue Facette bekommen. Was eigentlich nur schwer denkbar ist, soll jetzt möglich werden. Eine Videosprechstunde geht auch bei Notfällen und im organisierten Not(fall)dienst.
Der „Aufstieg“ der Videosprechstunden verlief bisher in Etappen: Zunächst wurde sie über eine Anschubfinanzierung nach der GOP 01451 EBM (92 Punkte) gefördert, die aber am 30. September 2021 ausgelaufen ist. Es folgte die Aufnahme der Abrechnungsmöglichkeit von Leistungen, die eigentlich einen (höchst-)persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt erfordern, wie z. B. die Versicherten- und Grundpauschalen. Auch Gesprächsleistungen, die telefonisch ausgeschlossen sind, können mittlerweile per Videosprechstunde berechnet werden, wie z. B. die GOP 03230 EBM und die meisten psychotherapeutischen Leistungen, nur weil der Patient im Gegensatz zum Telefonat auf dem Bildschirm zu sehen ist. Eingeschränkt ist lediglich die Zahl der Video-Behandlungsfälle auf 30 %. Diese Grenze wurde in der Pandemie zwar vorübergehend aufgehoben, ist seit dem 1. April 2022 aber wieder gültig – ausgenommen im „Video-Notdienst“.
In seiner 80. Sitzung am 17. Juni 2022 hat der (ergänzte) Bewertungsausschuss (EBA) Beschlüsse im Hinblick auf die Abrechnung von Leistungen bei Patienten im Notdienst per Videosprechstunde gefasst (siehe Tabelle). Dabei gibt es eine Art „Zweiklassenrecht“! Nur an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte dürfen im Notfall oder organisierten Not(fall)dienst eine Videosprechstunde durchführen und abrechnen.
Nichtvertragsärzte, Institute und Krankenhäuser können die GOP 01210 und 01212 nur bei einem persönlichem Arzt-Patienten-Kontakt (pAPK) berechnen. Nach der Neuregelung kommen bei einer ersten Inanspruchnahme im Rahmen einer Videosprechstunde diese GOP nun entsprechend den in der Leistungslegende vorgegebenen Zeiten im Behandlungsfall zum Ansatz. Jede weitere Inanspruchnahme im Notfall oder im organisierten Not(fall)dienst kann im Behandlungsfall – wie auch bei einem persönlichen pAPK – nach den Gebührenordnungspositionen 01214, 01216 bzw. 01218 berechnet werden. Lediglich der Ansatz der GOP 01223, 01224 und 01226 ist im Rahmen einer Videosprechstunde ausgeschlossen.
Bei der Umsetzung sind Probleme absehbar!
Bereits seit dem 19. Januar 2022 ist es möglich, selbst bei einem unbekannten Patienten – wie dies im organisierten Not(fall)dienst die Regel sein dürfte – eine AU von bis zu 3 Kalendertagen zu bescheinigen. Hier gibt es aber im zugrundeliegenden Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) die Einschränkung „[…] wenn dies im Rahmen einer Videosprechstunde feststellbar ist“. Auch haben Patienten ausdrücklich keinen Anspruch auf die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit per Videosprechstunde. Die Entscheidung trifft ausdrücklich allein der Arzt (und haftet entsprechend). Bei bekannten Patienten kann im Rahmen einer Videosprechstunde grundsätzlich sogar eine AU von bis zu 7 Tagen ausgesprochen werden.
Hier könnte das erste Umsetzungsproblem auftreten: Seit dem 1. Juli 2022 muss eine AU – auch im Rahmen der Videosprechstunde – auf elektronischem Weg an die Kasse übermittelt werden. Der Video-Patient erhält ein Stylesheet der AU postalisch zugeschickt, dessen Versand nach der GOP 40128 EBM berechnet werden kann („Kostenpauschale für die postalische Versendung einer mittels Stylesheet erzeugten papiergebundenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung […] bei Patientenkontakt im Rahmen einer Videosprechstunde […]“). Die Abrechnung dieser Leistung ist im Beschluss des EBA aber z. B. nicht vorgesehen.
Rahmenbedingungen zur Videosprechstunde werden angepasst!
Ein zweites Problem dürfte eine Änderung in der technischen Vereinbarung zur Videosprechstunde darstellen. Videodienstanbieter, die vertragsärztlich eingesetzt werden, müssen ab 1. Januar 2023 von unabhängigen Zertifizierungsstellen den Nachweis erhalten, dass sie bzw. der angebotene Videodienst einen ausreichenden Standard an Informationstechniksicherheit (IT-Sicherheit) und Datenschutz gewährleisten. Die Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH (DAkkS) prüft diesbezüglich die von den Zertifizierungsstellen entwickelten Prüfverfahren und somit die Eignung der ausgegebenen Nachweise. Zur Stärkung der Transparenz im Markt müssen Videodienstanbieter dann auch in der Selbstauskunft kenntlich machen, für welches konkrete Angebot die Zertifizierungsaussage für Videodienstanbieter gilt. Dazu sind der genaue Produktname und die Internetadresse bzw. der Uniform Resource Locator (URL) anzugeben. Mit dieser Präzisierung soll Vertragsärzten – und damit auch den Betreibern von Notdienstzentralen – verdeutlicht werden, dass die Zertifizierung nur den Videokanal eines Produktes betrifft und nicht mögliche weitere Anwendungen. Diese neuen Anforderungen sind auch bei der nun möglichen Videosprechstunde im Notfall und organisierten Not(fall)dienst umzusetzen.
Fazit:
Haftungsrechtlich unbedenklich ist der Einsatz einer Videosprechstunde im Notfall und organisierten Not(fall)dienst allenfalls bei leichten Erkrankungen, wie dies zuletzt im Rahmen der Pandemie bei der Telefonsprechstunde der Fall war. Hier könnte aus rein seuchenhygienischen Gründen die Notfall-Videosprechstunde künftig (wieder) eine Rolle spielen. In allen anderen Fällen wäre dies keine „Notfallbehandlung“, sondern ein zusätzlicher Service für GKV-Versicherte, der extrabudgetär aus der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) bezahlt wird und bei einer Leistungsausweitung das in den Praxen zur Verfügung stehende Finanzbudget erheblich einschränken kann.
Diese Leistungspositionen des EBM stehen im Rahmen einer Videosprechstunde bei Notfällen bzw. im organisierten Not(fall)dienst jetzt zur Verfügung:
EBM | Legende | Euro | Bemerkungen |
---|---|---|---|
Notfallpauschale im organisierten Not(fall)dienst im Rahmen einer Videosprechstunde ... | |||
01210 | ... bei Inanspruchnahme zwischen 07:00 und 19:00 Uhr (außer an Samstagen, Sonntagen, gesetzlichen Feiertagen und am 24.12. und 31.12.) | 13,52 | Erfolgt die Behandlung ausschließlich im Rahmen einer Videosprechstunde erfolgt ein Abschlag von 10 % auf die Punktzahl. Die Abrechnung muss in diesem Fall mit der Kennziffer 88220 gekennzeichnet werden. Die GOP 01450 und 01444 (bei unbekannten Patienten) sind zusätzlich berechnungsfähig. |
01212 | ... bei Inanspruchnahme zwischen 19:00 und 7:00 Uhr des Folgetages und ganztägig an Samstagen, Sonntagen, gesetzlichen Feiertagen und am 24.12. und 31.12. | 21,97 | |
Weiterer persönlicher oder anderer Arzt-Patienten-Kontakt im organisierten Not(fall)dienst im Rahmen einer Videosprechstunde ... | |||
01214 | ... bei Inanspruchnahme außerhalb der in den Gebührenordnungspositionen 01216 und 01218 angegebenen Zeiten | 5,63 | Nach einer ersten Inanspruchnahme im Notfall oder im organisierten Not(fall)dienst nach den Gebührenordnungspositionen 01205 oder 01207 können die Gebührenordnungspositionen 01214, 01216 und 01218 nur mit ausführlicher schriftlicher medizinischer Begründung berechnet werden. Die GOP 01450 ist im Rahmen einer Videosprechstunde zusätzlich berechnungsfähig. Der (erneute) Ansatz der GOP 01444 ist ausgeschlossen. |
01216 | ... bei Inanspruchnahme zwischen 19:00 und 22:00 Uhr und an Samstagen, Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, am 24.12. und 31.12. zwischen 7:00 und 19:00 Uhr | 15,77 | |
01218 | ... bei Inanspruchnahme zwischen 22:00 und 7:00 Uhr und an Samstagen, Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen, am 24.12. und 31.12. zwischen 19:00 und 7:00 Uhr | 19,15 | |
Zuschlag im Zusammenhang mit den Versichertenpauschalen und den fachgruppenspezifischen Grundpauschalen ... | |||
01450 | ... für die Betreuung eines Patienten im Rahmen einer Videosprechstunde | 4,51 | Der Höchstwert für das Punktzahlvolumen für die Gebührenordnungsposition 01450 beträgt 1.899 Punkte je abrechnendem Vertragsarzt. |
01444 | ... für die Authentifizierung eines unbekannten Patienten im Rahmen einer Videosprechstunde durch das Praxispersonal | 1,13 | Die Berechnung der GOP ist bis zum 31.12.2022 möglich. |
Quelle: KBV
Dr. med. Gerd W. Zimmermann ist Facharzt für Allgemeinmedizin und seit vielen Jahren als Referent sowie Autor zum Thema Leistungsabrechnung nach EBM und GOÄ tätig.